Göttingen. J. Robert Oppenheimer fällt an der Universität Göttingen nicht nur durch fachliche Brillanz, sondern auch durch arrogantes Auftreten auf.

Es ist einer der größten Kinohits des Jahres: Mehr als 2,2 Millionen Besucher haben seit der Deutschlandpremiere am 20. Juli den Historienfilm „Oppenheimer“ von Star-Regisseur Christopher Nolan gesehen. Der dreistündige Film erzählt die Lebensgeschichte von Julius Robert Oppenheimer (1904-1967), einem der Pioniere der Quantenphysik. Weltberühmt wurde er als „Vater der Atombombe“: Oppenheimer war ab 1942 wissenschaftlicher Leiter des streng geheimen „Manhattan-Projekts“ im Los Alamos Laboratory in New Mexico. Die US-Regierung befürchtete damals, dass Nazi-Deutschland die Ende 1938 von Otto Hahn und Fritz Straßmann entdeckte Kernspaltung zum Bau von Nuklearwaffen nutzen könnte. Dieser potenziellen Bedrohung wollte man durch die Entwicklung der ersten Atombombe zuvorkommen. Projektleiter Oppenheimer hatte sich zuvor als theoretischer Physiker einen Namen gemacht. Eine kurze, aber bedeutsame Etappe seiner wissenschaftlichen Karriere verbrachte er an der Universität Göttingen: 1927 wurde er dort in nur sechs Monaten zum Doktor promoviert.

J. Robert Oppenheimer 1926/27 während seiner Zeit als Doktorand in Göttingen.
J. Robert Oppenheimer 1926/27 während seiner Zeit als Doktorand in Göttingen. © Wikipedia | Wikipedia

Göttingen war zu dieser Zeit die Hochburg eines völlig neuen Forschungsgebiets. Studierende und Graduierte aus aller Welt pilgerten zu den Physikalischen Instituten an der Bunsenstraße, um bei Max Born zu forschen. Born hatte dort seit 1921 die Professur für Theoretische Physik inne, unter seiner Ägide wurde Göttingen zum weltweit führenden Zentrum der Atomphysik. An seinem Lehrstuhl entstanden bahnbrechende Arbeiten auf dem Gebiet der Quantenmechanik, unter anderem von Wolfgang Pauli, Werner Heisenberg, Pascual Jordan und Friedrich Hund.

Im Alter von 22 Jahren kommt Oppenheimer nach Göttingen

Oppenheimer kam im Oktober 1926 im Alter von 22 Jahren nach Göttingen. Zuvor hatte er an der US-amerikanischen Elite-Universität in Harvard ein Studium mit dem Hauptfach Chemie absolviert, das er 1925 mit „summa cum laude“ abschloss. Danach ging er nach England, wo er eine Forschungsstelle im Bereich der experimentellen Physik am Cavendish Laboratory der Universität Cambridge annahm. 1926 veröffentlichte er mehrere Arbeiten zu Fragen der Quantenmechanik. Dadurch wurde Max Born auf ihn aufmerksam. Als Born im Sommer 1926 das Cavendish-Labor besuchte, bot er Oppenheimer an, seine Forschungen in Göttingen fortzusetzen und bei ihm zu promovieren.

Die Gedenktafel für Julius Robert Oppenheimer am Gebäude der heutigen Bonifatiusschule, Am Geismartor, in Göttingen.
Die Gedenktafel für Julius Robert Oppenheimer am Gebäude der heutigen Bonifatiusschule, Am Geismartor, in Göttingen. © Wikipedia | Wikipedia

Oppenheimer wohnte in der Villa eines Arztes am Geismar Tor in Göttingen. Nicht nur das Physik-Institut in der Bunsenstraße, auch seine Unterkunft war zu dieser Zeit eine Top-Adresse für Physiker aus aller Welt. Neben diversen Forschern aus den USA quartierte sich auch der Quanten-Pionier Paul Dirac (1902-1984) aus Cambridge dort ein, der 1933 den Nobelpreis bekommen sollte. Auch ein Sohn des Vermieters war Physiker: Günther Cario (1897-1984) war damals als Assistent des Nobelpreisträgers James Franck am II. Physikalischen Institut in Göttingen tätig, später wurde er Professor für Physik an der Technischen Hochschule Braunschweig. „Es muss ein inspirierendes Umfeld gewesen sein“, meint denn auch der Leiter des Göttinger Universitätsarchivs, Dr. Holger Berwinkel.

Oppenheimer war von Göttingen begeistert. „Die Naturwissenschaften sind hier viel besser als in Cambridge, (..) vermutlich besser als irgendwo sonst“, schrieb er an einen Freund. Bei seinen Kommilitonen und Kommilitoninnen war er allerdings nicht sonderlich beliebt. „Oppie“, wie sie ihn nannten, war ein intellektueller Überflieger, der seine fachliche Brillanz und Überlegenheit gerne allzu deutlich zeigte. „Im Seminar unterbrach er besserwisserisch nicht nur seine Kommilitonen, sondern sogar Born“, berichtet Archivleiter Berwinkel. Eine Gruppe von Studierenden, angeführt von der späteren Nobelpreisträgerin Maria Göppert, war von dem arroganten und dominanten Auftreten des amerikanischen Doktoranden derart genervt, dass sie mit dem Boykott des Seminars drohten.

Oppenheimer - begabt, peinlich und mit Hang zum Snobismus

Born schrieb später: „Oppenheimer schuf mir größere Probleme. Er war ein sehr begabter Mann, und er war sich seiner Überlegenheit auf eine Art bewusst, die peinlich war und Scherereien machte.“ Kai Bird und Martin J. Sherwin schildern in ihrer mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Biografie („American Prometheus. The Triumph and Tragedy of J.Robert Oppenheimer“), dass der aus wohlhabenden Verhältnissen stammende US-Forscher zudem einen Hang zum Snobismus hatte und gelegentlich in feinem englischen Tuch aufkreuzte.

Oppenheimer war indes nicht nur ein exzentrischer, sondern auch ein exzellenter und produktiver Wissenschaftler. Schon wenige Wochen nach seiner Ankunft in Göttingen reichte er im Dezember 1926 einen Aufsatz beim Fachjournal „Zeitschrift für Physik“ ein, eine Kurzfassung seiner bald darauf vorgelegten Dissertation „Zur Quantentheorie kontinuierlicher Spektren“. Max Born lobte die Arbeit, die er mit „ausgezeichnet“ bewertete, in höchsten Tönen: „Es handelt sich um eine wissenschaftliche Leistung von hohem Rang, die weit über den durchschnittlichen Dissertationen steht.“ Oppenheimers Doktorvater, der 1954 für seine Arbeiten zur Quantenmechanik den Nobelpreis erhalten sollte, machte nur eine Einschränkung: „Der einzige Mangel in der Arbeit besteht darin, daß sie schwer lesbar ist.“

Diesen Lebenslauf reichte Oppenheimer zur Promotion ein.
Diesen Lebenslauf reichte Oppenheimer zur Promotion ein. © Uni Göttingen | Universitätsarchiv Göttingen

Zulassung zur Promotion fast gescheitert

Oppenheimers Promotionsvorhaben wäre beinahe aus einem formalen Grund gescheitert. Weil er einen nachlässig verfassten Lebenslauf vorgelegt hatte, hatte er sich im November 1926 nur als Gasthörer immatrikulieren können. Mit diesem Status war er nicht zur Promotion zugelassen. Nachdem die Fakultät beim preußischen Kultusministerium interveniert und Oppenheimer nachträglich einen ausführlicheren Lebenslauf vorgelegt hatte, wurde er schließlich doch zugelassen und konnte am 11. Mai 1927 sein Rigorosum ablegen. Er bestand die mündliche Prüfung in Theoretischer Physik, Physikalischer Chemie und Mathematischer Analysis mit „sehr gut“. Einer seiner Prüfer war James Franck. Der Nobelpreisträger äußerte sich anschließend erleichtert darüber, dass er gerade noch davongekommen sei: „Oppenheimer begann schon, mir die Fragen zu stellen.“

Die Zweitschrift von Oppenheimers Promotionsurkunde wird im Archiv der Universität Göttingen aufbewahrt. Der Physiker wurde am 11. Mai 1927 zum „Doktor der Philosophie“ ernannt. 
Die Zweitschrift von Oppenheimers Promotionsurkunde wird im Archiv der Universität Göttingen aufbewahrt. Der Physiker wurde am 11. Mai 1927 zum „Doktor der Philosophie“ ernannt.  © Uni Göttingen | Universitätsarchiv Göttingen

Zwei Wochen später bekam Oppenheimer die Promotionsurkunde der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät ausgehändigt. Wie damals üblich wurde der Quantenphysiker zum „Doktor der Philosophie“ ernannt. Kurze Zeit später verließ Oppenheimer Göttingen und kehrte in die USA zurück, wo er seine wissenschaftliche Karriere fortsetzte. Seine Promotionsakte ist im Universitätsarchiv aufbewahrt. Nach Angaben von Archivleiter Berwinkel gibt es dort insgesamt mehr als 9.500 Akten allein aus den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften.

Albert Einstein (links) und Robert Oppenheimer im Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey.
Albert Einstein (links) und Robert Oppenheimer im Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey. © Wikipedia | US Govt. Defense Threat Reduction Agency

Ende Oktober 1942 wurde Oppenheimer mit der wissenschaftlichen Leitung des „Manhattan-Projekts“ beauftragt, an dem mehrere Tausend Menschen beteiligt waren. Am 16. Juli 1945 wurden ihre Arbeitsergebnisse in die Praxis überführt: Um 5:29:45 Uhr Ortszeit wurde in der Wüste in New Mexico beim „Trinity“-Test erstmals eine Atombombe gezündet.

J. Robert Oppenheimer (mit hellem Hut und Fuß auf dem Geröll) mit General Leslie Groves (Mitte), und anderen an der Stelle, an der sie Monate zuvor beim Trinity-Test mit die erste Atombombe gezündet hatten.
J. Robert Oppenheimer (mit hellem Hut und Fuß auf dem Geröll) mit General Leslie Groves (Mitte), und anderen an der Stelle, an der sie Monate zuvor beim Trinity-Test mit die erste Atombombe gezündet hatten. © U.S. federal government, | United States Department of Energy

Wenige Wochen später wurde am 6. August 1945 die weltweit erste Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima abgeworfen. Mehr als 70.000 Menschen waren sofort tot, unterschiedlichen Schätzungen zufolge sollen bis 1946 zwischen 90.000 und 160.000 Menschen an den Folgen des Abwurfs gestorben sein. Drei Tage später folgte ein weiterer Atombombenabwurf auf die Stadt Nagasaki, auch hier gab es Zehntausende Tote und Verletzte.

Der Hiroshima-Platz in Göttingen

47 Jahre nach dem Abwurf der ersten Atombomben wurde am 14. August 1992 auf Vorschlag des damaligen Oberbürgermeisters Artur Levi (SPD) der Platz vor dem Neuen Rathaus in Göttingen in „Hiroshimaplatz“ umgetauft. Erst später fiel auf, dass in unmittelbarer Nähe des Hiroshimaplatzes einst der „Vater der Atombombe“ gewohnt hatte. 2018 wurde an dem Gebäude, in dem heute die Bonifatiusschule untergebracht ist, eine Gedenktafel für den Physiker enthüllt – eine nicht unumstrittene Würdigung.

Professor Peter Aufgebauer vom Institut für Historische Landesforschung der Universität Göttingen hatte zuvor in einer Stellungnahme das Anbringen der Gedenktafel befürwortet. Er begründete dies damit, dass Oppenheimer ein wichtiger Protagonist der „Göttinger Physik“ gewesen sei. Oppenheimer könne mit einer gewissen Berechtigung als „Vater der Atombombe“ bezeichnet werden. An den politischen Entscheidungen über den Einsatz der Bomben über Japan seien die an dem Projekt tätigen Wissenschaftler nicht beteiligt gewesen. „Wie viele andere und besonders die emigrierten Wissenschaftler befürchtete er, dass die auch dank Göttingen weltweit führende deutsche Atom- und Quantenforschung vom NS-Regime in dem von Deutschland begonnenen Weltkrieg zur Entwicklung von Nuklearwaffen benutzt werden könnte“, so der Historiker. „Den engen Zusammenhang von physikalischer Grundlagenforschung und daraus resultierender Entwicklung von Atombomben als Massenvernichtung hat Oppenheimer als grundlegenden Konflikt seiner Generation und als persönliche Tragik empfunden.“

Einsatz für friedlichen Nutzen der Atomenergie

Aufgebauer verwies darauf, dass Oppenheimer sich nach 1945 für die friedliche Nutzung der Atomenergie eingesetzt habe. Außerdem habe er die Forschungen seines früheren Studien- und Arbeitskollegen Edward Teller, der ab 1931 ebenfalls in Göttingen studiert hatte, am Projekt einer Wasserstoffbombe kritisiert und zu behindern versucht.

Die „Göttinger Erklärung“ gegen atomare Aufrüstung

Zwölf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geriet Göttingen als einstige Hochburg der Atomphysik erneut in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit: Am 12. April 1957 veröffentlichten 18 führende westdeutsche Atomwissenschaftler die „Göttinger Erklärung“. Die Physiker – unter ihnen die drei Nobelpreisträger Otto Hahn, Max Born und Werner Heisenberg – wandten sich gegen eine Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen, wie sie insbesondere von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU) angestrebt wurde. Weitere Unterzeichner waren Fritz Bopp, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Haxel, Hans Kopfermann, Max v. Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Paul, Wolfgang Riezler, Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker und Karl Wirtz.

Die Bezeichnung der Gruppe als „Göttinger Achtzehn“ bezog sich zum einen auf die gemeinsamen akademischen Anfänge vieler ihrer Mitglieder in Göttingen. Gleichzeitig verwies sie auf die berühmte Protestaktion der „Göttinger Sieben“: 1837 protestierten sieben Göttinger Professoren gegen die Aufhebung der liberalen Verfassung des Königreichs Hannover durch König Ernst August I.; daraufhin wurden sie entlassen. 120 Jahre später ging von Göttingen wieder ein Signal des Widerstandes aus. Das „Göttinger Manifest“ der Atomwissenschaftler stieß nicht nur in Deutschland, sondern auch international auf ein großes Echo. Der Protest zeigte Wirkung: Die Bundeswehr blieb atomwaffenfrei.