Braunschweig. Als die Lions-Footballer versprachen, das Braunschweiger Stadion voll zu bekommen – und es dann auch tatsächlich schafften.

Samstags war es in der Innenstadt in Braunschweig immer proppevoll. Vormittags zumindest, denn viele Geschäfte schlossen ja um 14 Uhr. Spätestens. Und war es nicht schon Mühe genug, sich seinen Weg durch die Massen zu bahnen, um unbedingt das zu erledigen, was zu erledigen war, versperrte auch noch ein großer, lauter Spielmannszug den Weg. Klar, natürlich ausgerechnet dort, wo sich ohnehin schon die meisten Menschen pro Quadratmeter durch die City schlängelten. Aber stopp mal. Das war ja ganz andere Musik, als man es kannte. Und auch die Uniformen der Musiker wirkten fremd. So amerikanisch, so nordamerikanisch. USA-like. Eine Marching-Band. Interessant.

Und nahe dabei standen und marschierten mit, ohne korrekt im Takt zu bleiben wie die Uniformierten, fünf, sechs, sieben Menschen in komischen Sport-Verkleidungen mit Helmen – und verteilten Flyer. Damals bemerkte man solche Dinge links und rechts und geradeaus vom Weg noch. Smartphones gab es nicht, und in den Ohren der meisten Menschen steckten beim Stadtgang noch keine Musik-Stöpsel.

Braunschweiger Lions: vom Underdog zum Rekordmeister

Also, was war da los? Ganz klar: Die Footballer, die Lions rührten die Werbetrommel in eigener Sache. Immer dann mitten im Innenstadt-Gedränge, wenn abends ein Heimspiel im Stadion an der Hamburger Straße auf dem Programm stand. Oder besser: im Eintracht-Stadion, wie es nun schon seit Jahren offiziell und damals inoffiziell von den Fußball-Fans genannt wurde. Oder Lions-Stadion, wie es die Fans der Löwen-Footballer etwas spitzbübisch nannten.

Mitte der 1990er Jahre begannen die Lions, sich und ihren Sport professionell zu vermarkten. Wo das hingeführt hat? Nun, im Stadion zu einer solchen Fülle an Menschen bei Spielen dieser damals bei uns weithin noch unbekannten Sportart, die in Deutschland rekordverdächtig war. Und rein sportlich? Auch zu bis dato unerreichten Höhenflügen. In wenigen Jahren schwangen sich die Braunschweiger auf, deutsche Rekordmeister zu sein. Und das sind sie heute noch.

1993 gab es das erste Lions-Spiel im Braunschweiger Stadion

Mit dem gewonnenen Bundesliga-Aufstiegsspiel 1993 gegen die Cologne Bears begann die Ära der Braunschweiger Footballer im Stadion an der Hamburger Straße. Und nur wenige Jahre später ließ der damalige Lions-Manager Peter Beute einen Spruch während einer Pressekonferenz los, der denkwürdig war: „Wir geben so lange keine Ruhe, bis die Schüssel voll ist.“ Punkt. Stille im Saal.

Einige Journalisten-Kollegen grinsten, andere schüttelten erst den Kopf und grinsten dann. Und dem Vertreter des Hauptsponsors, Jens Wolter von Feldschlößchen, vorn auf dem Podest, links von Beute, verlor kurzzeitig die Kontrolle über seine Gesichtszüge und blickte äußerst irritiert. Allein die Ankündigung, mit Football das Stadion voll zu bekommen, wirkte wie kompletter Irrsinn, ein Ding der Unmöglichkeit, ein Anflug von Größenwahn.

18.200 Football-Fans wollten die Lions und die Hamburg Blue Devils sehen

Keine zwei Jahre später kamen 18.200 Menschen zum Heimspiel am 1. Mai 1999 gegen die Hamburg Blue Devils, zum Duell mit dem Erzrivalen, zum Football-Gucken und nicht zu einer Doppelveranstaltung, wie sie fortan für mehrere Jahre gang und gäbe war.

Dass dies so kommen konnte, war einer grandiosen Geschäftsidee von Beute und seinen Mitarbeitern zu verdanken. Und die funktionierte so: Kaufst du eine Saison-Dauerkarte für die Lions, bekommst du zwei Konzerte nach Football-Spielen geschenkt. Um welche Künstler es sich handelt, wurde allerdings zunächst geheim gehalten.

Mit Fury in the Slaughterhouse fing alles an

Und so gaben sich zwischen 1998 und 2003 unter anderen Fury in the Slaughterhouse, Herbert Grönemeyer mit seinem Mega-Hit „Männer“, Fanta4, Joe Cocker, die Söhne Mannheims, die Tanzkantine, die SAS-Band und Nena im Lions-Stadion die Klinke in die Hand. Nenas Friedenslied und Gassenhauer „99 Luftballons“ feierte seinerzeit selbst in den USA riesige Erfolge. Der Kreis war geschlossen.

Und das wirkte nach, auch wenn purer Sport auf dem Programm stand. 14 Tage nach dem Grönemeyer-Auftritt vor weit mehr als 20.000 Zuschauern bejubelten 10.300 Menschen beim Europapokalspiel gegen die Prag Panthers den 74:0-Erfolg der Braunschweiger. Im Dauerkartenpreis war dieses Spiel nicht inbegriffen.

Die Lions-Verantwortlichen hatten ganz viel Glück

„Eines muss man unbedingt betonen“, sagt Beute heute: „Wir haben ganz viel gearbeitet, aber wir haben auch ganz, ganz viel Glück gehabt.“ Und der inzwischen 63-Jährige erzählt: „Wir haben das irre Glück gehabt, Ende 1997 die Außenwette von ,Wetten, dass..?’ machen zu können, ohne, dass wir da was angeschoben haben. Da waren wir nur Nutznießer. So haben wir unheimlich viele neue Kontakte bekommen.“

Und so ging es weiter. „Auch beim ersten Konzert hatten wir unheimliches Glück. Zunächst war die Skepsis groß gewesen, als wir erzählt hatten, dass wir nach dem Spiel mit einer Umbauzeit von nur wenigen Minuten das Stadion zu einer Open-Air-Arena machen wollten, um ein Konzert auf großer Bühne im Innenraum zu veranstalten. Da haben alle gesagt: Das funktioniert nicht. Ihr habt ‘ne Meise. Die einzigen, die sich darauf eingelassen haben, das waren die Furys.“

Kai und Thorsten Wingenfelder waren für alles zu haben

Auch so ein richtiger schöner Zufall, denn: „Auch das war wieder Glück, weil eine unserer Mitarbeiterinnen, Sabine Wingenfelder, verheiratet war mit Norbert Wingenfelder, Marketing-Leiter von Mercedes Braunschweig, einer unserer Sponsoren. Und dessen Brüder Kai und Thorsten stellen das Herz der Fury-Band dar. Die haben sich dann wegen der persönlichen Kontakte halt eher darauf eingelassen, bei uns etwas zu machen.“ 13.800 Menschen pilgerten zum Lions-Spiel mit anschließendem Fury-Konzert 1998.

Und nicht zuletzt kam dies dazu: „Das Glück, dass diese ganzen ehrenamtlichen Helfer aus dem Lions-Fanklub Feuer und Flamme waren und uns halfen, wo sie konnten. Ohne sie wäre so ein Umbau des Stadions in kürzester Zeit gar nicht möglich gewesen. Das war unbezahlbar gut“, schwärmt Beute.

Michael Schacke und die Agentur Undercover halfen kräftig mit

Schnell sprach sich in der Musik-Branche herum, dass das klappt, was die Lions-Verantwortlichen versprechen. Mit Unterstützung der Agentur „Undercover“ und Braunschweigs Veranstaltungs-Guru Michael Schacke gewann die Umsetzung der Beute-Idee enorm an Fahrt, und der Traum von der „vollen Hütte“ wurde wahr, als Grönemeyer nach dem Lions-Spiel auftrat und noch ein paar tausend Zuschauer hinzukamen, die nur das Konzert sehen wollten.

Künstler sind eigen, das weiß man ja. Und so gibt es aus jenen Tagen reichlich Geschichten, kleine und große, die Erstaunen und Lacher hervorrufen. Leider liegen die besten Storys unter Verschluss, tief eingegraben im Gedächtnis von Beute und Co. und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Doch manches kann der Ex-Manager, der vor seiner Lions-Zeit und danach viele Jahre als Realschullehrer arbeitete, nun doch erzählen.

Joe Cocker hatte eine ellenlange Wunschliste für das Catering

„Bei Cocker waren unsere Mitarbeiter mehrere Tage in der ganzen Region unterwegs, um die speziellen Wünsche zu finden und einzukaufen. Bei Grönemeyer war es noch spezieller. Und dann kam die Catering-Liste von Nena. Und alle staunten, denn da standen nur drei Wünsche: drei Äpfel, ein scharfes Messer und eine Flasche guten Wein.“

Unvergessen für Beute sind auch die Fantastischen Vier und BAP. Die Musiker von Fanta4 wollten unbedingt beim Heimspiel gegen die Stuttgart Scorpions im Fanblock der Süddeutschen das Spiel verfolgen. „Das taten sie dann auch, waren aber natürlich mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden und erzählten das dann auch später auf der Bühne“, erzählt Beute mit einem Lächeln. Mit 71:20 siegten die Lions damals. Autsch.

Wolfgang Niedecken von BAP stellte sich an der Würstchen-Bude an

Und Wolfgang Niedecken, das Gesicht von BAP, ließ es sich nicht nehmen, mit den Fans an der Bude anzustehen, um sich dann, als er dran war, ein Würstchen zu kaufen. Für 2,50 Euro. „Das fand der besser als den Vip-Raum. Total bodenständig. Wir hatten 90 Minuten Konzert vereinbart, und gespielt haben die knapp drei Stunden. Einfach klasse“, erinnert sich Beute. Oder Fury. „Die hatten kein Problem damit, mal zur Pressekonferenz bei unserem Hauptsponsor vorbeizukommen und ein Feldschlößchen-Trikot überzustreifen.“

Doch wie um alles in der Welt kamen denn Beute und Co. überhaupt auf diese bahnbrechende Idee mit den Konzerten? Dazu muss man die Zeit noch deutlich weiter zurückspulen. „Ich kann mich noch gut an meinen ersten Besuch an der Roten Wiese erinnern, wo ich nach zehn Minuten gegangen bin und gedacht habe: Was ist denn das hier. Ich habe gar nichts verstanden, ich habe den Ball nicht gesehen, ich wusste nicht, worum es geht“, schildert Beute seine erste Begegnung mit dem Football in Braunschweig Anfang der 1990er Jahre.

„Fußball muss man nicht erklären, aber Football schon“

Und er ist überzeugt: „Das ist ja auch heute noch bei ganz, ganz vielen Menschen so. In Deutschland muss man Fußball nicht erklären und Handball nicht erklären und Basketball nicht erklären. Aber Football muss man sehr wohl erklären. Und wie willst du dann Menschen dazu motivieren, zu etwas hinzugehen, von dem sie keine Ahnung haben? Du musst sie kundig machen.“

Und das taten die Lions, indem sie nicht müde wurden, Flyer mit Spielregeln zu verteilen. Sie fanden einen Stadionsprecher, der es schaffte, jede Szene auf dem Platz so zu erklären, dass neue Zuschauer verstanden, worum es geht, und die eingefleischten, regelkundigen Fans nicht mit Banalitäten in die Verzweiflung stürzten. Das sprach sich rum und generierte neue Zuschauer.

Die Lions bauten eine riesige Party rund um die Heimspiele

Aber Beute war das nicht genug. Das Stadion war einfach zu groß, um es nur mit einem Randsport zu füllen, und auch zu groß, um so viel Platz unbenutzt zu lassen. „Der erste Ansatz war, eine Party ringsherum um das Spiel zu bauen, mit Bühne, wo vor dem Spiel und danach was passiert. Mit Musik und anderen Dingen, so etwas wie ein Jahrmarkt. Und auch, dass die Leute früher kommen, dass schon eine Stunde vor dem Spiel auch im Stadion schon was los ist“, schildert Beute.

Da ist mal ein Hubschrauber mit dem Spielball gelandet oder Fallschirmspringer haben den Ball mitgebracht. Irgendein Stuntman hat sich vom Dach abgeseilt. Ein echter Löwe wurde mal ins Stadion geführt. „Ich weiß nicht mehr, was wir alles für verrückte Geschichten gemacht haben. Und das hat im ersten Jahr schonmal richtig viele Zuschauer gebracht.“ Und dann wagten sich die Lions-Macher an die ganz großen Konzerte ran. Fast eine logische Konsequenz, eine Weiterentwicklung der Idee.

Live-Konzerte wurde immer teurer und unbezahlbar

Aber warum ging das so nicht immer so weiter? Letztlich hat der technische Fortschritt die Lions eingebremst. Die Kosten für die Konzerte stiegen schneller und schneller, höher und höher. „Das war eine andere Zeit, als Konzerte noch so ein bisschen den Boden bereitet haben, um CDs zu verkaufen“, weiß Beute. „Und kurz danach ist ja dieser CD-Markt durch die Streaming-Möglichkeiten immer weiter verloren gegangen. Und damit haben sich auch die Gagen massiv erhöht für die Künstler. Selbst damals war das schon sehr komisch, wenn man bedenkt, wie der eigene Jahresverdienst aussah und was Künstler an einem Tag verdient haben und man dafür den Kopf hinhalten musste.“ Zumal ein Großteil der Gage Monate vorher, manchmal sogar komplett schon bei Vertragsabschluss zu zahlen war. Ohne, dass auch nur eine Mark oder ein Euro in der Lions-Kasse über Kartenverkäufe hätte reinkommen können.

Doch das ganze finanzielle Risiko hat auch dem Sport geholfen. Beute: „Man muss schon deutlich sagen, dass wir mehr Geld für all das in die Hand genommen haben, was drumherum passierte im Stadion als für den Sport selbst. Das war schon verrückt. Das gab es nirgendwo anders. Was wir allerdings für den Sport ausgegeben haben, war bei weitem dann auch mehr als es sich andere Klubs leisten konnten.“

Die Bundesliga-Konkurrenz der Lions platzte vor Neid

Das führte auch zu viel Neid bei der Konkurrenz, einerseits. Aber andererseits auch zu Begehrlichkeiten bei vielen Topspielern fast aller Bundesligisten, die ganz unabhängig vom Geld zu gern einmal in ihrer Karriere in Braunschweig spielen wollten, als Mitglied der Heimmannschaft – vor so einem Publikum.

Das sicherte viele Jahre den Erfolg des Footballs in Braunschweig, der ohne das Stadion gar nicht möglich gewesen wäre. So ist die glorreiche Lions-Geschichte untrennbar verknüpft mit dieser Traditionsspielstätte. Und mit ganz viel Täterätä drinnen und draußen.