Kiew. Strom ist Luxus, Internet auch – und die Einberufung zum Militärdienst schwebt über allem. Wie es ist, wenn Krieg die Arbeit bestimmt.

In den Lärm der Sirenen bei einem Luftalarm mischt sich in Kiew dieser Tage ein altbekanntes Geräusch: das laute Brummen der Benzingeneratoren. Inzwischen hat so gut wie jedes kleine Kaffeehaus in der ukrainischen Hauptstadt einen Generator – was nicht gerade angenehm, aber unter Umständen unverzichtbar ist. Denn nachdem Russland Ende März eine neue Angriffswelle gegen die ukrainische Energieinfrastruktur gestartet hat, erleben die Kiewer eine ähnliche Situation wie im Winter 2022/2023. Strom ist zum Luxus geworden, der nur stundenweise zur Verfügung steht.

Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Konkret sieht die Realität so aus: Vier Stunden am Tag gibt es garantiert keinen Strom, drei Stunden vielleicht – und nur zwei Stunden quasi garantiert. Ob die Versorgung besser oder schlechter ist, hängt von vielen Faktoren ab, darunter dem Wetter oder den unmittelbaren Folgen des letzten russischen Angriffs. Summieren sich gleich mehrere Faktoren auf ungünstige Weise, kann es auch zu einem kompletten Blackout kommen.

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Zwar sind die Hauptstädter dieses Mal besser vorbereitet – mit Powerbanks und anderen Backup-Möglichkeiten, und Stromausfälle sind im Sommer ohnehin einfacher zu verkraften als im Winter. Doch für mich als Journalisten, der von einer stabilen Stromversorgung und funktionierendem Internet abhängig ist, bedeutet es permanent zu improvisieren. Oft muss ich quer durch die Stadt pendeln, um immer dort zu sein, wo es gerade Strom und Internet gibt.

Ukrainer haben Illusionen über Kriegsverlauf aufgegeben

Vor anderthalb Jahren waren die Umstände widriger: Damals gab es in meinem gesamten Stadtteil rund drei Tage lang gar keinen Strom, kein fließendes Wasser und keine funktionierende Heizung – das alles bei Temperaturen deutlich unter null. Trotzdem ist auch die aktuelle Lage alles andere als angenehm, zumal es schon jetzt klar ist, dass den Kiewern ein weiterer, sehr harter Winter bevorsteht. Nach mehr als 850 Tagen des vollumfänglichen russischen Angriffskrieges ist die Stromversorung deshalb eines der drängendsten Themen, die meine Landsleute umtreiben.

Der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy im Kiewer Stadtteil Obolon.
Der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy im Kiewer Stadtteil Obolon. © privat | Privat

Strom ist nicht nur knapp, er ist auch teurer geworden. Das hängt mit den massiven Beschädigungen der Infrastruktur, vor allem der Wärme- und Wassergeneratoren, zusammen, die repariert werden müssen. Und auf die Erhöhung der Stromtarife dürfte in den kommenden Monaten auch eine fast unvermeidliche Steuererhöhung folgen. Denn das ukrainische Militär wird fast ausschließlich aus den eigenen Steuer- und Zolleinnahmen sowie Krediten finanziert. Zwar liefert der Westen Waffen und Munition, die westlichen Finanzhilfen dürfen aber kaum für militärische Zwecke genutzt werden.

So wächst langsam, aber sicher ein Budgetloch, das zumindest zum Teil durch Steuern geschlossen werden muss. Trotzdem liegt in der Ukraine in diesem schweren Sommer keine Hoffnungslosigkeit in der Luft. Obwohl die große Offensivoperation im vergangenen Jahr nicht geglückt ist und sich die Illusionen darüber, dass die Ukraine bald ihre volle territoriale Integrität wiederherstellen kann, zerschlagen haben, ist die Lage an der Front nicht katastrophal: Denn der russische Vorstoßversuch im Norden der Region Charkiw ist alles andere als ein Erfolg – und in der Region Donezk kommen die Russen zwar kontinuierlich voran, aber weiterhin ohne atemberaubende Errungenschaften.

Mobilisierung trifft immer mehr Männer ohne Militärerfahrung

Natürlich ändert das nichts an der Tatsache, dass die letzten großen militärischen Erfolge der ukrainischen Armee lange zurückliegen und die Russen die Initiative seit Oktober 2023 in der Hand haben. Hinzu kommt die komplizierte und sehr sensible Mobilisierungsproblematik: Der Ukraine gehen die Männer zwar bei Weitem nicht aus, doch es liegt in der Natur der Sache, dass die Mobilmachung mit der Zeit immer mehr Menschen auch ohne Militärhintergrund betreffen wird. Und damit gehen die Leute sehr unterschiedlich um.

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Bei den meisten überwiegt das Gefühl, ungern zur Armee gehen zu wollen, dem Dienst jedoch auch nicht zu entfliehen, sollten sie einberufen werden. Es gibt aber auch Männer, die es sich kaum noch trauen, ihre Wohnung zu verlassen, damit sie auf der Straße nicht durch Zufall einem Mitarbeiter der Einberufungsbüros in die Arme laufen. Wie alle anderen Männer betrifft auch mich die potenzielle Mobilisierung – und ich kann die Meinungen von so gut wie allen Gesellschaftsgruppen dazu nur allzu gut verstehen. Auch wenn es schwer ist, dabei neutral zu bleiben.

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Als Ukrainer über die Ukraine zu berichten, ist für mich in diesen Tagen noch schwieriger als sonst. Im Land herrscht derzeit die wohl komplizierteste Stimmung seit Beginn des Krieges – abgesehen vielleicht von den allerersten Tagen und Wochen, als die Gefühlslage eine völlig andere war und auf den ersten Schock ein großer patriotischer Aufschwung folgte.

Klar ist den Ukrainerinnen und Ukrainern, dass die Armee das Vorankommen Russlands auf dem Schlachtfeld zumindest stoppen muss, damit Wladimir Putin von seinen unrealistischen Forderungen für einen Waffenstillstand abrückt. Dies zu erreichen, ist zweifellos möglich. Doch es wird kaum gelingen, bevor nicht die Munitionsproduktion im Westen deutlich steigt – was bis Jahresende noch der Fall sein wird. Bis dahin gilt für uns alle, ganz egal in welcher Funktion oder Position, vor allem eines: Durchhalten.