Istanbul. Bayern München zeigt in der Champions League bei Galatasaray, dass das Team einen Reifeprozess hinter sich hat. Harry Kane sticht heraus.

Hinterher war es auch eine Frage der Perspektive und der gewollten Betrachtungsweise, wie derzeit so einiges beim FC Bayern, darunter im Fall Noussair Mazraoui. In sportlichen Fragen galt nach dem 3:1 (1:1)-Sieg bei Galatasaray Istanbul ebenfalls, dass der Blickwinkel und die äußeren Einflüsse dazu beitragen können, zu welchem Ergebnis man kommt.

Die Münchener entschieden sich auch nach dem lange Zeit äußerst gefährdeten, am Ende aber kühl erwirtschafteten Erfolg für eine Deutung zu ihren Gunsten. Dafür gab es durchaus gute Gründe, wenngleich die weiteren Zahlen auch eine andere Bewertung gerechtfertigt hätten – und ein anderes Spielergebnis.

Bayern lassen 20 Torschüsse zu

Allein nach der ersten Halbzeit standen 16 Torschüsse für Galatasaray in der Bilanz, aber nur deren drei für den FC Bayern. Nach den packenden 90 Minuten hatten die Münchener insgesamt 20 Torschüsse zugelassen, so viele wie noch nie seit Beginn dieser Datenerfassung in der Champions League.

Thomas Tuchel gewann auch sein drittes Gruppenspiel mit Bayern München.
Thomas Tuchel gewann auch sein drittes Gruppenspiel mit Bayern München. © getty

Dennoch durften sie sich am Ende über einen großen Schritt in Richtung Achtelfinale freuen, weil sie dank der späten Tore von Harry Kane (73.) und Jamal Musiala (79.) ihren dritten Sieg im dritten Gruppenspiel erreicht hatten. Insgesamt war es sogar der 16. Sieg hintereinander in einem Gruppenspiel, nicht mehr verloren haben die Bayern bereits seit 37 Gruppenspielen.

Galatasaray-Fans machen Lärm

Diese Rekordserien waren beim türkischen Meister zwar erheblich in Gefahr geraten, nachdem die Münchener in der ersten Halbzeit im Aufbau und in der Defensive einige Defizite gezeigt hatten. Dennoch und trotz ihrer Personalsorgen war es ihnen später gelungen, die enthusiastisch singenden Galatasaray-Fans herunterzupegeln auf das Dezibel-Niveau eines Wartezimmers beim Ohrenarzt.

„Zur Halbzeit war das Beste an unserem Spiel, dass es 1:1 steht“, sagte Torwart Sven Ulreich ehrlich, nachdem er den kurz vor dem Comeback stehenden Manuel Neuer zum wohl vorerst letzten Mal mit erneut herausragenden Paraden vertreten hatte. Nur Mauro Icardi hatte Ulreich mit einem frech gelupften Foulelfmeter überwinden können (30.), nachdem Kingsley Coman mit seinem vierten Tor in den jüngsten drei Spielen für die frühe Führung gesorgt hatte (8.).

Sven Ulreich erkennt einen Reifeprozess

Die Leistungssteigerung in der zweiten Halbzeit samt der kalten Effizienz am Ende wertete Ulreich als Beleg eines Reifeprozesses. In Kopenhagen und Istanbul sei es jeweils „ein enges Ding“ gewesen, und es sei „wichtig, wieder zu wachsen als Mannschaft, und das haben wir wirklich gemacht“, befand er, man habe den Gegebenheiten getrotzt. Solche Spiele, erinnerte Ulreich, „hätten wir letztes Jahr, glaube ich, auch oft hergeschenkt.“

Joshua Kimmich, der im defensiven Mittelfeld keinen guten Tag erwischt und den Elfmeter verursacht hatte, stimmte zu: „Vor ein paar Wochen und Monaten hätten wir das wahrscheinlich nicht zeigen können. Da sind wir auf jeden Fall einen Schritt weiter und wissen auch, dass selbst, wenn wir eine sehr, sehr schwache erste Halbzeit spielen, immer wieder unsere Qualität trotzdem auf den Platz bringen können“, sagte er.

Innenverteidiger Matthijs de Ligt erkannte ebenfalls einen „Schritt nach vorne“ und ergänzte: „Natürlich können wir manchmal besser spielen, aber am Ende sind wir erwachsen und gewinnen 3:1.“

In der Tat waren die Bayern, die in der Bundesliga am Samstag auf Aufsteiger Darmstadt 98 treffen, in der vergangenen Saison mehrmals damit aufgefallen, Spiele aus der Hand zu geben oder sich von Anfang düpieren zu lassen. Nun aber scheinen sie trotz erkennbarer Defizite eine neue Widerstandskraft entwickelt zu haben. Auch dank des starken Ulreichs, durch dessen Leistungen die Sinnhaftigkeit von Yann Sommers Nottransfer im vergangenen Winter nach Neuers Beinbruch zusätzlich infrage gestellt wird.

Thomas Tuchel lobt die vordere Reihe

Viel zu tun hat die neue Resilienz aber auch damit, dass anders als in der Vorsaison wieder ein Mittelstürmer mit einer herausragenden Qualität und Effizienz im Abschluss im Kader steht. Bis zur Schlussphase war Kane fast nicht zu sehen gewesen, dann traf er nach Musialas Zuspiel zum 2:1, ehe er dem Kollegen das 3:1 auflegte. „Unsere vordere Reihe ist extrem gut, auch wenn wir schlecht spielen. Das hilft uns auch, schwierige Phasen zu überstehen“, sagte Trainer Thomas Tuchel.