Wolfsburg. Zwei Straßen, 13 Häuser, eine Plantage: Das ist die Schleusensiedlung in Wolfsburg-Sülfeld. Sie bietet Ruhe - und fast kein Internet.

Eine Schleuse, der Kanal, Bunker zum Spielen: Schon als kleiner Junge und als Jugendlicher war Manfred Jammer gerne in der Schleusensiedlung in Sülfeld. „Hier möchte ich mal wohnen, hier möchte ich alt werden: Das war mein größter Wunsch“, erinnert sich der Wolfsburger. Der Wunsch hat sich erfüllt. Seit mehr als 20 Jahren lebt und arbeitet Jammer jetzt schon in der in den 30er-Jahren für Schleusenarbeiter errichteten Siedlung am Mittellandkanal.

13 Häuser stehen hier an zwei Straßen. Die meisten Gebäude wurden wie die Siedlung Steimker Berg im für die Zeit typischen Heimatschutzstil erbaut. Vereinzelt zieren die gut 80 Jahre alten Häuser noch Sprossenfenster und Holz-Fensterläden. Die Gärten sind riesig, 1000 Quadratmeter sollen es sein.

Sülfelder Schleusensiedlung: 13 Häuser stehen am Mittellandkanal

Nicht nur diese Katze, sondern auch die Bewohner der alten Häuser genießen die Ruhe in der Siedlung.
Nicht nur diese Katze, sondern auch die Bewohner der alten Häuser genießen die Ruhe in der Siedlung. © regios24 | Helge Landmann

Manfred Jammer wohnt ganz am Ende der einen Straße. Als er das Fenster öffnet, um zu schauen, wer da klingelt, hat er gerade eine weiße Katze auf dem Arm. Zur Familie gehören auch zwei mächtige Hütehunde. Was ihm am Leben in der Schleusensiedlung gefällt? „Dass ich nicht in der Stadt wohne.“

Dass der Gartenbauer an seinem Wunsch-Wohnort lebt, hat er einem Zufall zu verdanken. Er hörte von einem Bekannten, dass ein Haus in der Siedlung frei war, meldete sich sofort und erhielt den Mietvertrag. Den Nachbarn, erinnert er sich, habe das damals nicht so gut gepasst: Sie hätten auch alle gerne Bekannte in die Siedlung geholt.

Ein Gartenbauer zwischen Schiffern und Schleusenmitarbeitern

Manfred Jammer wohnt und arbeitet in der Schleusensiedlung. Im
Manfred Jammer wohnt und arbeitet in der Schleusensiedlung. Im "Koniferenland" züchtet er Gehölze wie diese Blutbuche, Zypressen und Obstbäume in den verschiedensten Größen und Formen. © regios24 | Helge Landmann

Jammer, inzwischen über 70, wohnt nicht nur in der Schleusensiedlung. Seine inzwischen verstorbene Frau und er haben auch gleich neben dem Haus das „Koniferenland“ aufgebaut, das der Sülfelder heute alleine führt. Die Plantage und die darauf wachsenden Gehölze sind sein ganzer Stolz, das merkt man sofort.

Hier stehen neben Koniferen hohe Zypressen, 35 Jahre alte Azaleen, Blutbuchen, eine Rotbuche, deren Äste nach stetigem Beschnitt Teller bilden, Kugelbäume und die Weihnachtsbäume von morgen. Jammer zeigt Himbeeren, Blaubeeren, Stachelbeeren, Maulbeeren und Obstbäume in allen erdenklichen Größen und Formen. Sogar sehr niedrige, waagerecht wachsende Apfelbäume: für Rollstuhlfahrer.

Im Lebensmittelladen deckten sich die Schiffer ein

Ein großer Anker ziert den Vorgarten von Marlies Moisig.
Ein großer Anker ziert den Vorgarten von Marlies Moisig. © regios24 | Helge Landmann

Noch länger als Jammer, nämlich seit 35 Jahren, wohnt Marlies Moisig in der Schleusensiedlung. Die gebürtige Berlinerin und ihr Mann, ursprünglich aus Bremerhaven, sind ehemalige Schiffer. Sie leben gleich im ersten Haus an der Schleuse. „Das bot sich an, direkt am Kanal“, sagt die 54-Jährige. Den Garten ziert ein großer Anker.

Auch dieses Haus, das eigentlich aus zwei Häusern besteht, hat eine Geschichte, die mit dem Kanal zusammenhängt. Es beherbergte früher einen Laden, der, so Moisig, hauptsächlich von den Schiffern lebte. Sie mussten damals noch an der Schleuse warten und deckten sich derweil mit Lebensmitteln ein. Der Edeka, sagt die Sülfelderin, habe so gut überlebt. „Ich kenne noch Leute, die es erlebt haben.“

Die Siedlungshäuser stehen unter Denkmalschutz

Manchmal fährt ein Schiff vorbei. Die Sülfelder Schleuse ist gleich nebenan. Für ihre Mitarbeiter wurde die Siedlung gebaut.
Manchmal fährt ein Schiff vorbei. Die Sülfelder Schleuse ist gleich nebenan. Für ihre Mitarbeiter wurde die Siedlung gebaut. © regios24 | Helge Landmann

Das Geschäft wurde 1936 erbaut, das Wohnhaus 1938 darangesetzt. Es ist das einzige Gebäude, das nicht unter Denkmalschutz steht. Der bereitet mitunter Schwierigkeiten. Der Bund verkauft ein Haus nach dem anderen. Das große Schleusenwärterhaus ging vor zwei Jahren bei einer Auktion für gut 200.000 Euro weg. Einige der neuen Eigentümer möchten sanieren. Doch sie wissen nicht wie, denn es gibt kaum alte Unterlagen oder Fotos als Grundlage für eine denkmalgerechte Sanierung.

Schon vor Jahren haben Moisig und zwei weitere Bewohner der Schleusensiedlung in einem Aufruf in den Wolfsburger Nachrichten um alte Fotos und Unterlagen gebeten. Besonders viel erreicht haben sie bislang nicht. „Es ist nicht einfach, herauszubekommen, wo die Kinder der Leute wohnen, die einmal hier gelebt haben“, erklärt Moisig. Und wenn jemand gefunden sei, dauere es auch, bis die Nachkommen Zeit fänden, alte Bilder herauszusuchen.

Marlies Moisig schwört auf die Gemeinschaft in der Siedlung

Einige Häuser der Schleusensiedlung stehen zurzeit leer. Andere sind relativ frisch verkauft.
Einige Häuser der Schleusensiedlung stehen zurzeit leer. Andere sind relativ frisch verkauft. © regios24 | Helge Landmann

Die ehemalige Schifferin fühlt sich in der kleinen Siedlung am äußersten westlichen Stadtrand von Wolfsburg ausgesprochen wohl. „Hier ist noch wirklich Gemeinschaft“, sagt sie. „Egal was, es wird geholfen.“ Wenn jemand krank sei, zum Beispiel, mit dem Einkauf, oder auch während der Corona-Zeit. Die Abgelegenheit stört Moisig nicht: „Wir haben einen Bus hier, wir haben alle Autos.“ Nur das Internet ist ihrer Schilderung nach so schlecht, dass die Bewohner mit Glück Fotos verschicken können. „Nachrichtenschauen ist nicht.“

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Das Internet ist auch der einzige Kritikpunkt eines Nachbarn, der gerade mit dem Auto wegfahren will. Ihm gefallen die Ruhe und die Nähe zur Arbeit. „Ich arbeite auf der Schleuse“, sagt der 56-Jährige. „Von daher ist es günstig.“ Seit 1995 stellt ihm das Wasser- und Schifffahrtsamt eine Doppelhaushälfte mit Ölheizung als Dienstwohnung zur Verfügung. Das Haus, erzählt er, sei 1938 für 38.000 Reichsmark gebaut worden.

Die Dienstwohnung hat noch eine Ölheizung

Marlies Moisig hat bei ihren Recherchen herausgefunden, dass die Schleusensiedlung einst doppelt so groß geplant war. Auf einer alten Karte hat sie gesehen, dass die Querstraße, in der Manfred Jammer wohnt, der Verbindungsweg zu einer weiteren Straße werden sollte. Dieser Plan blieb ein Plan. Sonst würden, wo heute all die ungewöhnlichen Bäume wachsen, weitere Siedlungshäuser stehen.

Manfred Jammer fühlt sich unter den Schiffern und Schleusenmitarbeitern auch zwei Jahrzehnte nach seinem Glück mit dem Mietvertrag noch wie ein Aussätziger. Doch die Siedlung verändert sich. In seiner Straße gibt es neue Bewohner. Und das Schleusenwärterhaus hat nach Moisigs Wissen ein Unternehmen gekauft. Was die Firma daraus machen will, weiß sie nicht. Noch steht es leer.