Ludwigsburg/Essen. Belgien startet am Montag in die EM - als Geheimfavorit. Das ist ein Verdienst von Trainer Tedesco, der die Roten Teufel umgebaut hat.

Wenn Domenico Tedesco vor die Türen des mondänen Schlosshotels in Ludwigsburg, in dem der Trainer mit der belgischen Nationalmannschaft residiert, tritt und ins Nachdenken kommt, ist das, was in ihm vorgeht, nicht schwierig zu erraten. Er ist erst 38 Jahre alt, der jüngste Trainer der EM 2024 nach Julian Nagelsmann (36). Für ihn schließt sich nun ein Karrierekreis.

Belgien-Trainer Tedesco: „Diese Region wollte ich meiden“

Im Alter von zwei Jahren war er mit seinen Eltern aus Italien nach Deutschland gekommen, die Familie ließ sich in Aichwald im Landkreis Esslingen nieder, 29 Kilometer entfernt von Ludwigsburg. Am Montag (18 Uhr in Frankfurt) trifft Belgien zum EM-Auftakt auf die Slowakei. „Um ganz ehrlich zu sein: Diese Region wollte ich meiden“, sagte Tedesco, dessen Familie in Stuttgart lebt, unlängst: „Es sollte keiner sagen: Der Trainer macht es sich einfach. Aber wie so oft sind die Spielorte entscheidend. Wir spielen in Frankfurt und Stuttgart - und dann ergibt es Sinn, sich auch dort einzuquartieren.“ Nüchtern ist er, ein Stratege - emotional nur an der Seitenlinie.

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Als Tedesco im Februar 2023 die Roten Teufel übernahm, die gerade ein bitteres WM-Vorrunden-Aus in Katar zu verkraften hatten, wirkte die belgische Öffentlichkeit enttäuscht. Sie hatte erwartet, dass Star-Co-Trainer Thierry Henry übernahm. Die Wahl eines noch sehr jungen Vereinstrainers? Gewagt. Doch Tedesco, der sechs Sprachen spricht, ging die Aufgabe an wie jedes Spiel: detailversessen, sympathisch, redegewandt.

Tedesco sah sich mit der Aufgabe konfrontiert, die Goldene, aber titellose Generation Belgiens abzumoderieren, einen Umbruch einzuleiten. Simon Mignolet, Thomas Vermaelen, Toby Alderweireld, Vincent Kompany, Dries Mertens, Eden Hazard, Marouane Fellaini - sieben Top-Spieler erklärten ihren Rücktritt. Allein ManCity-Star und Kapitän Kevin De Bruyne, Stürmer Romelu Lukaku und der Ex-Dortmunder Axel Witsel erinnern noch an diese Zeit. Tedesco startete deshalb nicht bei null - aber ohne große Erwartungen und mit riesigem Gestaltungsspielraum.

Belgiens größter Star ist Kevin De Bruyne von Manchester City.
Belgiens größter Star ist Kevin De Bruyne von Manchester City. © IMAGO/Photo News | IMAGO/Peter De Voecht

„Wir haben seit 2023 viele Änderungen vollziehen müssen. Die jetzige Mannschaft hat wenig mit der Mannschaft zu tun, die 2022 in Katar spielte. Wir haben junge Spieler reingebracht, die vor einem Jahr niemand auf dem Schirm hatte“, sagte Tedesco dazu. Als er Johan Bakayoko im März 2023 nominierte, pendelte dieser noch in Eindhoven zwischen Profis und U23. Inzwischen ist der 21-Jährige niederländischer Meister, Marktwert: 45 Millionen Euro.

Streit mit Belgiens Star-Torwart Courtois

Die Belgier, die oft gescheitert waren, weil herausragende Einzelspieler auf dem Platz keine Einheit gebildet hatten, entwickelten sich unter Tedesco zu einem bisher unbesiegten Team. Von 14 Tedesco-Spielen gewannen die Roten Teufel zehn, unter anderem 3:2 gegen Deutschland. „Ich habe das Gefühl, dass der Mannschaftsgedanke mehr im Vordergrund steht“, sagt Jean-Marie Pfaff, 70 Jahre alte Torwart-Legende. Auch das durch die Aufteilung in Wallonien, Flandern und die Vielvölker-Hauptstadt Brüssel zerstrittene Land steht zusammen, wenn die Nationalmannschaft spielt. „Ich stelle nach Leistung auf, nicht nach Sprache. Unsere Mannschaft ist etwas, was das Land extrem verbindet“, sagte Tedesco. Es läuft so gut, dass die Mannschaft schon wieder als Geheimfavorit gehandelt wird beim ersten Turnier nach der Goldenen Generation.

Es gibt nur eine Personalie, über die Belgien streitet - sie zeigt, dass Tedesco nicht nur eloquent und sympathisch sein kann, sondern auch gnadenlos und konsequent. Thibaut Courtois, Torwart-Legende des Champions-League-Siegers Real Madrid, fehlt im Aufgebot. Tedesco verzichtet freiwillig auf den 32-Jährigen, liegt mit ihm überkreuz. Als De Bruyne im Juni 2023 bei einem Länderspiel fehlte, hatte Tedesco Lukuku die Kapitänsbinde gegeben, nicht Courtois. Der vermisste die Wertschätzung. „Das war ein Vertrauensbruch“, sagte er. So gern Tedesco ausführlich antwortet, das Thema Courtois behandelt er inzwischen einsilbig: „Er hat offen und rechtzeitig kommuniziert, dass er für die EM nicht zur Verfügung steht.“ Tedesco hat auch eine raue Seite, 2018 hatte er als Schalke-Trainer den damaligen Kapitän Benedikt Höwedes ähnlich hart entmachtet. In Belgien trägt nun Koen Casteels vom Bundesligisten VfL Wolfsburg die Nummer eins.

Belgiens größter Star ist Kevin De Bruyne

Tedescos größter Star ist De Bruyne. Den lernt er im Schlosshotel in Ludwigsburg gerade erst richtig kennen. Nur in vier der 14 Tedesco-Spielen war der Mittelfeld-Dirigent dabei. Welches Ziel die beiden austüfteln? Das bleibt offen. „Wenn man sich unsere Gruppe anschaut, dann sollte unser Selbstverständnis sein: Wir wollen ins Achtelfinale“, sagt Tedesco. Mehr nicht? Darauf angesprochen, lächelte er und schwieg.